Sonntag, 23. Oktober 2011

Braucht der Westen den tibetischen Buddhismus?



 Rüdiger Sünner
@ http://www.ruedigersuenner.de/dalai1.html



Einleitung

Kaum ein Buch provozierte in den letzten Jahren
eine so erregte Kontroverse in Deutschland
wie "Der Schatten des Dalai Lama" (1999)
von Victor und Victoria Trimondi. Nachdem
ich mich bereits auf der umfangreichen Webseite
des Autorenpaares dazu geäussert hatte
(www.trimondi.de/deba06.html), möchte
ich angesichts des aktuellen ATALANTE-Themas
noch einmal differenzierter darauf eingehen.
Denn auch  wenn dem Buch manche Mängel
vorgeworfen wurden (Vermischung seriöser
mit unklaren Quellen, Sinnverkürzungen,
Zitatcollagen, Unkenntnis der tibetischen Sprache
bzw. des Sanskrit etc.) enthält es genug Material,
um mindestens eine Hauptthese zu untermauern:
Der nach Esoterik hungrige Westen habe bisher
den tibetischen Buddhismus eher verklärt und
idealisiert, als kritisch hinterfragt.
Die Anhänger des Dalai Lama und seiner Lehre müssten sich die Frage gefallen lassen, ob
sie nicht mit der Adaption dieses Glaubenssystems wieder ein vorrationales
okkult-magisches Weltbild einführten, in dem weniger selbstbestimmte
Individuen als transzendente Mächte bzw. ihre Sprachrohre, die tibetischen Lamas
herrschten: "Das Abendland hat mit der Aufklärung seine alten 'Götter' und Mythen gestürzt,
jetzt holt es sie durch die unkritische Übernahme exotischer Religionssysteme wieder
ins Land." (327)

Eine solche These stiess natürlich auf erbitterten Widerstand, hatten sich doch in den letzten Jahren Hunderttausende den Dalai Lama und seine "friedfertige" Religion zur neuen spirituellen Orientierung, ja zum Objekt grenzenloser Verehrung auserkoren. Viele glauben heute, dass der Buddhismus gegenüber dem langsam verfallenden Christentum eine echte Glaubensalternative darstelle, die dem in Materialismus gefangenen Europäer und Amerikaner neue Wege zu geistig-seelischem Heil weisen könne. Die Lektüre des Trimondi-Buches zeigt aber zumindest, das unzählige Facetten dieser Religion im Westen völlig unbekannt sind, ja dass sie Untiefen enthält, die auch in gänzlich andere Bereiche als "Frieden", "Mitgefühl" oder "Toleranz" weisen.
Auch wenn ich nicht mit allen Thesen des Buches einverstanden bin, so teile ich doch seine Meinung, dass umfangreiches und differenziertes Wissen zur Beschäftigung mit den Mythen und Religionen dieser Welt dazugehört. Nicht zuletzt habe ich aus einem solchen Ansinnen heraus dieses Online-Magazin gegründet. Wir wollen daher im folgenden einige Kernpunkte der Streitschrift diskutieren und zum Schluss fragen, ob und inwieweit der tibetische Buddhismus wirklich eine spirituelle Alternative für den Westen darstellt.



Frauenbild im tibetischen Buddhismus
Ein zentraler Vorwurf der Trimondis an den tibetischen Buddhismus ist, dass er in seinen Geheimlehren ein Bild der Frau pflege, durch das diese oft zum Symbol des Inferioren, Verführerischen und Dämonischen degradiert werde. Dies könne man nicht nur an negativ besetzten Sprachwendungen (1) ablesen, sondern bereits am tibetischen Ursprungsmythos selbst. Dieser berichte von der Verführung eines Buddhawesens in Affengestalt durch eine "von "Geilheit aufgestachelte" Dämonin namens Srinmo, der der meditierende Buddha zunächst 7 Tage lang widerstehen konnte. Erst als sie ihm drohte, mit anderen Dämonen monströse Jungtiere zu zeugen, die Tod und Verderben über die Welt brächten, schlief er "aus Mitleid" mit ihr.Eine andere Legende fügt hinzu, dass Srinmo, weil sie gegen die Einführung des Buddhismus in Tibet protestiert habe, auf den Rücken geworfen und mit 13 Ritualdolchen ("Nägel der Unbeweglichkeit") gepfählt worden sei.

Die Abbildung oben zeigt diesen Vorgang, wobei die jeweiligen Einschnittstellen auch die Hauptgründungsklöster Tibets markieren, mit dem Potala von Lhasa als Zentrum in der Mitte. Unter seinen Kellern, so die Sage, befinde sich ein riesiger Blutsee, aus dem dann und wann noch der leise Herzschlag der gepfählten Dämonin nach oben dringe.

Selbst wenn andere Mythen und Religionen auch nicht mit archaisch-drastischen Bildern geizen, so strömt dieses doch eine besonders makabre Kraft aus: Die Gründung Tibets wird im Zusammenhang mit der Herzdurchbohrung einer weiblichen Gottheit gesehen, die wohl Erdkräfte, Verführung, Wildnis, Animalisches und schweifend Sinnliches symbolisiert. Gleichwohl wird sie am Leben gelassen, um - gezähmt - ihre Energien doch irgendwie für eine männliche Priesterkaste nutzen zu können. Spricht sich hierin die gleiche Angst vor dem Weiblichen aus wie in buddhistischen Meditationsanweisungen für Mönche, die sich den langsam verwesenden Leib einer schönen Frau vorstellen sollen, um Einsicht in die unabwendbare Vergänglichkeit aller Dinge zu erhalten?

1) Die bei den Trimondis häufig zitierte intime Kennerin des tibetischen Buddhismus, June Campbell, weist daraufhin, dass in dieser Glaubenslehre eine Sprache fehlt, die geschlechtliche Differenz anerkennt und würdigt. Eher herrsche eine Terminologie sexistischer Polarisierung vor, die schon in der Frauenverachtung des historischen Buddha angelegt sei. So fallen Campbell in den heiligen Texten z.B. folgende Synonyme für "Frau" oder "Weiblichkeit" auf: "die mit Beschränkungen behaftet ist", "die fesselt", "die ohne Samen (Stärke) ist", "die man nachts nicht aus dem Haus lassen kann", "Unruhestifterin", "primäre Ursache des Leidens", "zuerst lächelnde Göttin ... dann Dämonin mit Leichenaugen ... am Ende zahnlose alte Kuh", "heilige Zutat des Tantra" (June Campbell: Göttinnen, Dakinis und ganz normale Frauen, Berlin 1997, 69f)




Trotz diesen herabwürdigenden Vorstellungen ist das Weibliche in den sexualmagischen Ritualen des tibetischen Buddhismus dennoch von grosser Wichtigkeit: Der Einzuweihende muss - real oder in der Einbildung - Geschlechtsverkehr mit einer "Mudra" (Gespielin) begehen, um sich deren begehrtes Vaginalsekret einzuverleiben, worauf er androgyn wird bzw. die "bisexuelle Gottheit im eigenen Körper" realisiert. Dieser Vorgang wird - laut dem Geheimtext des Kalachakra-Tantras - auch mit Minderjährigen vollzogen, wobei zuweilen der "Genuss" von deren Urin, Kot und Menstruationsblut quasi als anfachendes Moment noch der sexuell-spirituellen Steigerung dient. Auch wenn der Dalai Lama dies persönlich nicht (mehr) praktiziere - so die Trimondis - besässe er doch detaillierte Kenntnisse dieser Rituale und Techniken. Auf der "Mind and Life"-Konferenz in Dharamsala (1999) habe er sogar die anrüchige Vajroli-Methode erwähnt, mit der der Yogi übe, Wasser und Milch durch die Harnröhre nach oben zu ziehen. Derart trainiert, könne er dann beim Sexualverkehr den Samen anhalten bzw. das vaginale Sekret seiner Partnerin zu sich hinaufziehen, um es mit seinem Sperma zu einem göttlichen Extrakt zu vermischen (Schatten des Dali Lama, 349f).
Ritualgegenstände des tibetischen Tantra, die Vagina und Penis symbolisieren

Die jungen Gespielinnen - so erklärte das geistliche Oberhaupt der Tibeter noch zusätzlich - würden in der tantrischen Literatur u.a. nach der Form ihrer Genitalien klassifiziert: So gebe es die "Lotos-artige", die "Reh-artige", die "Muschel-artige" oder die "Elefanten-artige" (350).  Auch wenn diese Mädchen in Tibet vielleicht hoch angesehen werden und ihre gelegentliche Minderjährigkeit mit einem anderen Heiratsalter zu tun haben mag, so hat man es hier doch nicht mit einer Partnerschaft zu tun, sondern mit dem Gebrauch eines Objektes, das nach seinem Funktionieren wieder entlassen wird. Dass solche Praktiken auf jeden Fall bei westlichen Frauen traumatische Spuren hinterlassen können, erfuhr die bereits erwähnte schottische Religionswissenschaftlerin June Campbell, die einige Jahre lang "Mudra" des hochangesehenen Lamas Kalu Rinpoche war.
"Meine Einwilligung, in eine geheime sexuelle Beziehung einzutreten", schrieb sie darüber, "basierte vor allem auf der Verpflichtung zu Hingabe und Gehorsam, die für alle, die in der nächsten Umgebung des Lamas lebten, von zentraler Bedeutung ist. Ausserdem machte die Forderung, den Lama als göttlich anzusehen, es mir praktisch unmöglich, sein Urteilsvermögen bezüglich aller Fragen, die meine eigene spirituelle Entwicklung betrafen, anzuzweifeln." (Göttinnen, Dakinis und ganz normale Frauen, 165)
June Campbell glaubte anfangs, dass eine geheime Beziehung eine Erweiterung der religiösen Praxis sein könne und in den Bereich der geheimen tantrischen Praktiken fallen müsse. "Tatsächlich jedoch lief das, was geschah, den ursprünglich eindeutig egalitären tantrischen Vorstellungen völlig zuwider, da ich mit Forderungen konfrontiert wurde, in denen weder Achtung meinem Körper und meiner Person gegenüber zum Ausdruck kam, noch Rücksicht auf meine Gefühle genommen wurde ... irgendwann sah ich mich dann nicht mehr in der Lage, weiterhin eine Beziehung zu einer angesehenen Autoritätsperson aufrechtzuerhalten, die ständig meine Persönlichkeitsgrenzen verletzte und von mir bedingungslose Unterwerfung erwartete." (ebd. 166)

Da von June Campbell absolutes Stillschweigen über ihre Tätigkeit verlangt wurde, war es ihr zunächst nicht möglich, aus diesem Bannkreis auszubrechen, zumal sie mit Horrorgeschichten über das Schicksal von Mudras, die geplaudert hatten, eingeschüchtert wurde: "Menschen, die nie eine Tradition wie die tibetische von innen kennengelernt haben, mögen solche Ängste für völlig überzogen halten, doch in geschlossenen Gruppen dieser Art kann schnell eine autoritäre 'Kultur der Insider' die Herrschaft übernehmen." (167)

Ihr Schicksal war kein Einzelfall: Auch andere Lamas missbrauchten das Vertrauen ihrer Schülerinnen, so dass sich selbst der Dalai Lama damit beschäftigte und genaue Untersuchungen anregte. Selbst wenn man die Vergehen einzelnen fehlbaren Individuen anlastet, so spiegeln sie doch auch die unheilvolle "Allianz von Religion, Sexualität, Macht und Geheimhaltung", wie sie für das lamaistische Mönchswesen typisch ist. Diese Männer, die - so Campbell - früh ihren Müttern weggenommen wurden und nie eine Möglichkeit hatten, sich selbst als gewöhnliche Menschen zu erleben und eigene Identität (d.h. auch psychische Unabhängigkeit von der Mutter) zu entwickeln, wissen kaum etwas über zwischengeschlechtliche Beziehungen, aber gelten dennoch als grosse und "reine" Heilige. Besonders absurd und schmerzhaft wird es, wenn sie zwar nach aussen hin zölibatär auftreten, aber sich dennoch heimlich "gefügige" Frauen für ihre spirituellen Praktiken halten. June Campbell glaubt letztlich nicht an eine baldige Reformierung dieser jahrhundertelangen Traditionen, weil die gesamte Philosophie und Ikonographie des tibetischen Buddhismus fest darauf gegründet sei.



Brutale Ikonographie

Neben der Frauenfeindlichkeit werfen die Trimondis dem tibetischen Buddhismus eine "sadomasochistische Lust am Makabren und Aggressiven" vor, was sich vor allem in seinen Bilddarstellungen und den sog. Gokhangs (Schreckenskammern unter den Klöstern) zeige. Hier wuchere es nur so von abgeschlagenen Schädeln, Hackmessern, Instrumenten aus Menschenknochen, Leichenteilen, dämonischen Fratzen, Henkern, Zombies und sonstigen Horrorgestalten.

Warum, so fragen die Autoren, ist die Schutzgöttin des Dalai Lama ausgerechnet die Göttin Palden Lhamo (Bild), die auf der abgezogenen Haut des von ihr ermordeten Sohnes über einen kochenden Blutsee reitet, behängt mit Schädeln und abgeschlagenen Menschenköpfen? Warum tragen die sexuellen Gefährtinnen (Dakinis) gerne Hackmesser und mit Blut gefüllte Schädelschalen in der Hand und wieso werden junge Lamas während ihrer "Initiation" in Horrorkammern eingesperrt, wo Leichenteile und morbide Schreckgespenster auf sie warten?

Tibetologen und buddhistische Geistliche antworten darauf, dass all dies rein symbolische Gestalten seien, die die Dämonen des "niederen Selbst" (Begierden, Ängste etc.) verkörperten: Um zur Erleuchtung aufzusteigen, müsse der Adept sich ihnen mit voller Wucht stellen, ihre "Leerheit" erkennen und sie so endgültig abtöten. Die Trimondis halten dagegen, dass im okkulten Weltbild des Buddhismus Aussen- und Innenwelt, Subjekt und Objekt, Symbol und Realität nicht getrennt seien, was dazu führen könne, dass bestimmte magische Beschwörungen buchstäbliche Wirkungen erzielen könnten.
Zumindest für das alte Tibet sind Dinge wie Schwarze Magie und Schadenzauber belegt. So gab es etwa die sogenannten "Lingas" (Bild rechts), rituelle Abbildungen oder Figuren, in die alle Negativa des Feindes hineinprojiziert wurden, worauf man sie in dessen Haus brachte oder wie eine Voudoo-Puppe quälte.

"In einem so stark von der Magie geprägten Weltbild wie dem tibetischen"
, so Gerhardt W. Schuster in seinem aufschlussreichen Buch "Das alte Tibet - Geheimnisse und Mysterien", "führten Hass und Neid oft zu dem Entschluss, missliebige Menschen durch Schadenzauber zu schädigen. Allgemein bekannt war den Tibetern die starke Wirkung von sowohl positiver als auch negativer Gedankenenergie. Verstärkt durch die Anrufung zornvoller Gottheiten, konnte aus häufigem Verwünschen und Verfluchen einem Widersacher durchaus Schaden erwachsen. wesentlich nachhaltiger aber war die rituelle Verfluchung durch einen sachkundigen Magier." Gelegentlich wurde sogar von staatlicher Seite auf schwarzmagische Praktiken zurückgegriffen: Noch während der Jugendzeit des jetzigen Dalai Lama praktizierten Mönche des Mindoling-Klosters bei Lhasa aufwendige Zeremonien, um eine Invasion von Gurkha-Truppen aus Nepal abzuhalten (Schuster 135).
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Ähnlich bizarr mutet für den Westen, der im Mittelalter auch solche Praktiken kannte, das Phänomen des Ritualmordes an, das es heute in Europa vielleicht noch in Mafia-Kreisen gibt. Ein aufsehenerregendes Beispiel, das auch den Dalai Lama tief verstörte, war der äusserst brutale Mord, der in Dharamsala am 4. Februar 1997 an einem seiner engsten Vertrauten (Lobsang Gyatso) sowie an zweien seiner Schüler verübt wurde. Täter dieses blutigen Spektakels, bei dem sogar Kehlen durchgeschnitten und Hautteile der Opfer abgezogen wurden, waren konservative Anhänger der Gelbmützensekte, die den furchteinflössenden Rachegott Dorje Shugden ("Brüller des Donnerkeiles") verehren: vermutlich sollte ihr Mord ein Protest gegen die Verurteilung dieser Shugden-Anbeter und ihrer "reaktionären" schamanistischen Praktiken durch den Dali Lama sein. In diesem Falle, der natürlich auch wieder als Einzelbeispiel bzw. Pervertierung von Mythen gedeutet werden kann, scheint die "handgreifliche" Macht bestimmter Symbolgehalte plötzlich doch einmal ganz greifbar zu werden: Es ist wahrscheinlich, dass die Mörder sich durch intensive Verinnerlichung mit der Gewaltaura ihres Vorbildes so stark verbanden, dass sie am Ende die Tat als zwangsläufige Befolgung einer "höheren Eingebung" bzw. als Handlung der Gottheit selbst empfanden.

Ähnliches gibt es natürlich auch im Westen, wenn z.B. psychotische Mörder "im Auftrag" von Stimmen, Dämonen etc. handeln oder okkult faszinierte Jugendliche durch "Satan" oder "Odin" zu rituellen Morden inspiriert werden. Auch die islamistischen Attentäter des 11.September handelten ja in "göttlicher Mission" und waren sich bei ihrem "Heiligen Krieg" keiner Schuld bewusst. Keine Kultur - und sei sie noch so "aufgeklärt" - ist vor solchen erschreckenden Atavismen gefeit. Aber im Spektrum tibetischen Glaubens wurden und werden solche Taten nicht von verirrten Einzelgängern, sondern von religiösen Vertretern begangen, die sich durch ein komplexes System von Göttern und Dämonen abgesichert glauben. Auch wenn dieses nicht zwangsläufig zu solch monströsen Geschehnissen führen muss, so ist doch die Forderung berechtigt, offener über derartige Schattenseiten des Okkulten zu diskutieren bzw. die Frage zu stellen, wie diese mit Modernisierungs- und Reformprozessen eines neuen Tibet zusammengedacht werden sollen.




Archaische Geschichte
Während die Anhänger des Dalai Lama und auch dieser selbst die Geschichte Tibets gerne als eine von Frieden und Weisheit getragene Epoche deuten, ergeben die Recherchen der Trimondis ein anderes Bild: Neben meditativer Stille und einer Philosophie des Mitgefühls herrschten hier auch über Jahrhunderte Beamtenwillkür, diktatorische Entscheidungen, Gehirnwäsche, Dämonenglauben, spirituelle Kontrolle, kriecherische Servilität, der Gegensatz von Massenarmut und orientalischem Reichtum der Herrschenden, Mangel an jeder Hygiene, grausamste Straf- und Folterpraxen sowie privater und politischer Mord.
Der "Potala" in Lhasa: Zentrale Hochburg jahrhundertelanger spiritueller und politischer Macht

Diese Schattenseiten des vom Westen zurechtgeträumten Paradieses auf dem "Dach der Welt" werden von heutigen tibetischen Führern und ihren westlichen Anhängern meist unterdrückt. Während letztere nicht müde werden, in der eigenen europäischen Geschichte z.B. Leibeigenschaft, Sklaverei und Ausbeutung anzuprangern, übersehen sie dieselben Phänomene im weit entfernten und über allen Wolken thronenden Geheimland Tibet. Wichtig ist auch der Hinweis der Trimondis, dass bspw. der Karmaglaube dafür eingesetzt wurde, soziale Unterschiede spirituell zu rechtfertigen: Priviligiertheit konnte so als Belohnung für gute Taten in einem früheren Leben gedeutet werden und Armut als Busse für ehemalige Verfehlungen. Während sich der Westen über die barbarischen Exzesse der Taliban empörte, übersah er gerne, dass noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts öffentliche Auspeitschungen in Tibet üblich waren, von früheren Strafformen wie Verstümmelung etc. einmal ganz abgesehen. Der tibetische Klerus war nicht nur eine friedfertige Gruppe von studierenden Mönchen, sondern - laut den Trimondis - auch ein privates, profitorientiertes Kapitalunternehmen, in dem politische Intrigen und Konkurrenzkämpfe der verschiedenen Orden an der Tagesordnung waren. Zwischen den Eingeweihten und der analphabetischen Masse herrschte kein demokratischer Dialog, sondern Indoktrination und - wenn nötig - brutale Gewalt. Wie schnell dieses prekäre Gleichgewicht umkippen konnte, schilderte z.B. Heinrich Harrer, der in den 40er Jahren während des Neujahrsfestes einmal die Verwandlung von okkultem Massentheater in kollektive Raserei beobachten konnte:
"Wie aus der Hypnose erwacht, stürzen in diesem Augenblick die Zehntausende aus der Ordnung ins Chaos. Der Übergang ist so plötzlich, dass man fassungslos ist. Geschrei, wilde Gesten ... sie trampeln sich gegenseitig zu Boden, bringen sich fast um. Aus den noch weinend Betenden, ekstatisch Versunkenen sind Rasende geworden. Die Mönchssoldaten beginnen ihr Amt! Riesige Kerle mit ausgestopften Schultern und geschwärzten Gesichtern - damit die abschreckende Wirkung noch verstärkt wird. Rücksichtslos schlagen sie mit ihren Stöcken auf die Menge ein ... Heulend steckt man die Schläge ein, aber selbst die Geschlagenen kehren wieder zurück. Als ob sie alle von Dämonen besessen wären." (Schatten des Dalai Lama, 534)



Magische Politik

Wenn die Trimondis behaupten, dass der tibetische Buddhismus nach wie vor ein magisch-okkultes Weltbild pflege, in dem "Visionen", "Eingebungen" und "Götter" sogar die Politik mitbestimmen, so lässt sich dies am klarsten anhand des sogenannten Staatsorakels belegen, das am Hofe des Dalai Lama eine wichtige Funktion innehat. In Trance ruft dieses den Zorngott Pehar, um Weisungen für den Reinkarnationsort etwa eines verstorbenen Lamas zu erhalten. Bei solchen Ritualen spielen sich für den Westler bizarr anmutende Szenen ab: Das Orakel, meist ein junger Mann mit medialen Fähigkeiten, zuckt in seinem kiloschweren Ornat hin und her, bis sich ihm die Augen verdrehen und Schaum aus dem Mund tritt. Um ihn herum Mönche mit Diktaphonen, die gebannt jedes Stammeln aufzeichnen, das Botschaften über Himmelsrichtungen und Topographien Tibets enthalten soll, wo die Reinkarnation des geistlichen Führers in Form eines kleinen Jungen vermutet wird. Trotzdem einige "progressive" Tibeter diese archaische Methode inzwischen auch mit Skepsis ansehen, verteidigt sie der Dalai Lama nach wie vor als zuverlässige "Informationsermittlung":
Das Nechung-Orakel in Trance

"Ich halte aus dem einfachen Grund daran fest, weil ich im Rückblick auf zahlreiche Befragungen feststellen konnte, dass das Orakel noch immer recht hatte ... Ich glaube nicht nur an Geister, sondern an verschiedene Arten von Geistern! ... Zu dieser Kategorie gehört auch das Staatsorakel Nechung. Wir halten diese Geister für zuverlässig, denn sie haben eine lange Geschichte ohne jede Kontroverse in über 1000 Jahren." (Schatten des Dalai Lama, 548)

Trotzdem sich der Dalai Lama bei seinen Auftritten in Europa und Amerika als rational denkender Mensch gibt, herrschen in seinem Amtssitz in Dharamsala nach wie vor Orakelkunst, Reinkarnationsglaube, Sternenkunde, Traumdeutung und Losziehung vor, auch um wichtige Fragen der exiltibetischen Politik mitzubestimmen. So befragte man auch nach dem bereits oben erwähnten Ritualmord der Shugden-Anhänger das Orakel, wie man sich angesichts der furchtbaren Ereignisse zu verhalten habe. Ich erwähne dies hier nicht, weil ich solchen "okkulten" Dingen prinzipiell unversöhnlich gegenüberstehe: Auch in unseren "westlichen" Entscheidungsfindungen spielen Intuition, Eingebung, Inspiration, "innere Stimmen" und sogar Träume eine gewisse Rolle, ganz zu schweigen von der Arbeit der Künstler, die ohne so etwas gar nicht auskommt. Aber in Tibet wird darüber kaum offen gesprochen und das Orakelwesen liegt in der Hand einiger weniger Auserwählter, die naturgemäss damit auch Missbrauch betreiben können. Zudem ist es nicht eingebettet und ausbalanciert durch rationale und demokratische Prozesse, sondern bestimmt mit unhinterfragter Absolutheit das spirituelle und politische Geschehen.

Als weiteres Beispiel für "magische Politik" führen die Trimondis auch den sogenannten Shambhala-Mythos an, eines der Kernstücke des Kalachakra-Tantras, in dem die Etablierung eines goldenen buddhistischen Zeitalters und ein erbitterter Krieg gegen Glaubensfeinde vorausgesagt wird. Dort ist die Rede von "zornigen Raddrehern", die in einer "letzten Schlacht" die Feinde der buddhistischen Lehre vernichten werden, wobei bestimmte Begriffe auf den Islam deuten. Zwar sind solche Passagen in gewisser Weise historisch plausibel, da zur Entstehungszeit des Shambhala-Mythos (10. Jahrhundert) tatsächlich islamische Krieger in buddhistischen Gemeinden Indiens viel Unheil anrichteten. Aber man kann sich trotzdem fragen, wieso solche Anachronismen nach wie vor zur aktuellen "spirituellen Politik" Tibets gehören. Sie sind letztlich genauso unzeitgemäss, irrational und gewaltgeladen wie die Rechtfertigung von "Heiligen Kriegen" durch arabische oder jüdische Fundamentalisten, die ebenso auf jahrhundertealte Mythen zurückgreifen, um aktuelle politische Konflikte zu lösen.



Wer ist der Dalai Lama?
Wenn die Trimondis atavistische Tiefenschichten des tibetischen Buddhismus kritisieren, beziehen sie natürlich immer dessen Oberhaupt - den Dalai Lama - mit ein. Und doch verraten die Bemerkungen zu ihm eine gewisse Ambivalenz und Unentschiedenheit, die sich im Verlauf der Lektüre zu einem Katalog letztlich offener Fragen ausweitet. Man muss wissen, dass die Trimondis den Dalai Lama einst nicht nur schätzten, sondern auch Bücher von ihm verlegten und Grossveranstaltungen mit ihm organisierten. Irgendwann kam eine Abkehr und es entstand das Bedürfnis, religiöse Weltbilder - also auch den Buddhismus - genauer und tiefer zu analysieren. Ich vermute, dass dabei auch persönliche Erfahrungen (Enttäuschungen, Verletzungen?) der Autoren mit dem Oberhaupt Tibets eine Rolle spielten.

Leider wird darüber im Buch nichts gesagt, die Trimondis steigen nicht in den Keller ihrer eigenen Projektionen, Ängste und Verstrickungen hinab, wie sie es für den Umgang mit den "Schattenseiten" des Lamaismus fordern. Stattdessen klingt in ihrem Buch immer auch eine Art Hassliebe gegenüber dem Dalai Lama durch. Vielleicht auch ein bisschen Neid angesichts seines "Sex-Appeals", der ja offensichtlich auf zahlreiche Filmschauspielerinnen, Popsängerinnen und selbst Feministinnen zu wirken scheint? Man merkt, und das ist nicht unsympathisch, dass die Trimondis mit diesem interessanten und charismatischen Mann noch nicht fertig sind. Auch mir geht es so, wenn ich einerseits die kritischen Materialien im Buch lese, andererseits von ihm bspw. im Fernsehen immer wieder stark berührt werde.

Im "Schatten des Dalai Lama" wird dem Führer Tibets einerseits zugestanden, tatsächtliche Reformbewegungen voranzutreiben, andererseits erscheint er wie ein in finstere Okkultpraktiken verstrickter Zauberer, der mit allen Wassern der Sexualmagie gewaschen ist, rachsüchtige Schutzgottheiten verehrt und an einen Endkampf des Buddhismus um die Weltherrschaft glaubt. Die Trimondis berichten jedoch auch davon, wie er den Missbrauch von Frauen für tantrische Zwecke kritisiert, Licht- und Schattenseiten in der Vergangenheit seiner Heimat eingesteht und sogar die Gründung einer tibetischen Fraueninitiative protegierte. Ihm wird zugutegehalten, dass er sogar seine Wiedergeburt in einem weiblichen Körper für möglich hält, was einen radikalen Bruch mit dem bisher ausschliesslich männerdominierten Lamaismus bedeuten würde. Aber dann wird wieder gesagt, er äussere all dies immer nur mit einem Schmunzeln, kaschiert hinter mehrdeutigem Humor und es schimmert die Befürchtung hindurch, er sei doch ein listiger Stratege oder mephistophelischer Clown. Der Dalai Lama - dies merkt man auf Schritt und Tritt - ist den Trimondis unheimlich, eine Sphinx in männlicher Gestalt, bei der man nicht so genau weiss, wo man dran ist. Auch mir geht es zuweilen so und vielleicht spüre ich in diesen Momenten die tiefsten Abgründe zwischen Europa und Asien. Möglicherweise äussert sich bereits in der ganzen Aura dieses Mannes die Kluft zwischen westlichem Rationalismus, Entweder-Oder-Denken und dem östlichen (manchmal fast genüsslichen) Oszillieren zwischen allen Polen irdischer und kosmischer Fragen. Dies scheint mir ein erkenntnistheoretisches und moralisches Grundproblem nicht nur der Kritik des Buddhismus, sondern auch ihres obersten Führers zu sein.

Die Trimondis helfen sich aus dieser Verlegenheit, indem sie ein paar Dinge übertreiben: Sie erwähnen die Faszination des Dalai Lama für Kriegsspielzeuge, Kriegsfilme und Uniformen und erwägen, ob die Ausstrahlung der von ihm zelebrierten grossen Kalachakra-Rituale auch indirekt zum Tod von Petra Kelly oder Mao Tse Tung führten (703, 740). Auch sind sie in ihren Recherchen ungenau, was sein Zusammentreffen mit Alt-Nazis oder fanatischen Sektenführern betrifft. Ob man Heinrich Harrer einfach mit der Bezeichnung "SS'ler" ausreichend charakterisieren kann, bleibt fraglich. Ebenso beziehen die Trimondis ihre Information, der Dalai Lama sei nach seiner Flucht aus Tibet als erster vom chilenischen Neo-Naziführer Miguel Serrano begrüsst worden, aus einem Interview mit Serrano selbst, also einer höchst subjektiven Quelle (665). Und die Tatsache, dass sich der japanische Sektenführer Shoko Ashara als Inkarnation eines "Shambhala-Kriegers" sah, Sexualtantra praktizierte, 100.000 Dollar für tibetische Flüchtlingshilfe spendete und sich mit dem Dalai Lama traf (vor dem Giftanschlag in Tokio!), berechtigt noch nicht zu der Feststellung, dass dieser Ashara "direkt in die Geheimnisse seiner 'politischen Mystik' eingeweiht hat." (690) Unverständlich bleibt auch, warum der amerikanische Multimillionär John du Pont erwähnt wird, der 1996 auf offener Strasse den Olympiasieger David Schultz erschoss und kundtat, er sei der "Dalai Lama" und das "Oberhaupt einer weltweiten buddhistischen Kirche" (691)? Hier wird mit unlauteren Suggestionen und nebulösen Assoziationsketten gearbeitet, vielleicht auch aus Wut darüber, letztlich doch nicht an den "Kern" des zu Kritisierenden heranzukommen. Möglicherweise sind auch (uneingestandene) Gefühle persönlicher Abrechnung mit im Spiel, die die Qualität des sonst so wichtigen Buches leider trüben.



Braucht der Westen den Buddhismus?
Zu den einflussreichsten und wortgewaltigsten Propagandisten des tibetischen Buddhismus gehört der Amerikaner Robert Thurman (Bild), übrigens Vater der erfolgreichen Hollywood-Schauspielerin Uma Thurman ("Pulp fiction"). Er liebt es, von der "coolen Revolution des Buddhismus" zu sprechen, in dem für ihn Werte wie Individualismus, Pazifismus, Ökologie etc. zum Ausdruck kämen, ja er geht sogar soweit, die grossen tibetischen Gelehrten der letzten Jahrhunderte für bedeutender als ihre europäischen Kollegen zu halten. Hume, Kant, Nietzsche, Wittgenstein, Hegel, Heidegger - so der effektive Werbestratege des Dalai Lama - würden sich später einmal als Linienhalter der grossen Bodhisattvas erweisen. Amerikanische Halbbildung, Neid gegenüber dem kulturell älteren Europa oder provokativer Schachzug eines cleveren Marketing-Strategen? Tatsache ist jedoch, dass nicht nur Hunderttausende (in Amerika sogar Millionen) von Menschen sich der Spiritualität Tibets mit Faszination zuwenden, sondern auch Wissenschaftler wie der Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker oder der Evolutionstheoretiker Ken Wilber, der den tibetischen Buddhismus für das "umfassendste und vollständigste System der Welt" hält. (Schatten 765)

Es sei immer wieder erstaunlich, so auch die Trimondis, wieviele gestandene Gelehrte des Westens sich in unkritischer Begeisterung für den Dalai Lama und sein wissenschaftliches Halbwissen begeistern würden, ja oft liefen Konferenzen darauf hinaus, die neuesten Erkenntnisse Europas und Amerikas alle schon im Buddhismus vorzufinden.

Gegen diese Mischung aus Mode, Devotion, Naivität und Uninformiertheit mögen ein paar Gedanken von C.G.Jung und Rudolf Steiner helfen, die sich mit dem Problem der Adaption östlicher Weisheiten grundlegend beschäftigt haben. Denn vielleicht muss man bei diesem Thema noch tiefer gehen, als es eine Aufzählung von frauenfeindlichen, undemokratischen und dämonologischen Aspekten hergeben kann, die gleichwohl als Materialsammlung wichtig ist. Jung und Steiner hegten zeitlebens grosse Wertschätzung z.B. gegenüber dem Hinduismus und Buddhismus, warnten jedoch gleichzeitig immer vor einer blinden Übernahme dieser Lehren in den Westen. Zwar konzedierten beide, dass Asien sich bis heute eine ganzheitliche Weltsicht bewahrt habe, die im einseitig auf Rationalität und Technik fixierten Europa längst abhandengekommen sei. Doch sie forderten dazu auf, eigene philosophische und spirituelle Traditionen zu reaktivieren, um diese Wunde wieder von innen zu heilen: "Es scheint mir, dass wir wirklich etwas vom Osten gelernt haben, wenn wir verstehen, dass die Seele genug Reichtümer enthält, ohne dass sie von aussen befruchtet werden muss." (C.G.Jung: Gesammelte Werke, Solothurn und Düsseldorf 1995, Bd.11, 485)

Jung hatte zwar nichts dagegen, z.B. Yoga-Übungen als "Hygiene" zuzulassen, war aber gegenüber der asiatischen Lehre der Ich-Überwindung äusserst skeptisch eingestellt. Der Europäer, der sich seiner Meinung nach noch gar nicht mit den Untiefen seines Ichs auseinandergesetzt hatte, sollte nicht wegwerfen, was er überhaupt noch nicht besass. Für Jung war Europa, anders als der Osten, durch eine weitgehend übergestülpte Christianisierung ein Kontinent der Abspaltung und Verdrängung geworden. Man habe den "heidnischen Barbaren" lediglich in ein dunkles Verlies gesperrt, um darüber eine glänzende Welt von "Kultur", "Rationalität" und "Moral" zu errichten, die aber auf schwankenden Füssen stünde.

Hexenjagd, Inquisition, nationalistische Obsessionen, Kriege und kolonialistischer Grössenwahn waren für Jung Beispiele dafür, wie sich der eingesperrte "Barbar" - das unintegrierte Irrationale, Unbewusste, auch Dämonische - immer wieder aus seinem Keller zurückmeldete und alle gloriosen Errungenschaften wie "Vernunft", "Bewusstsein" oder "Ichstärke" ad absurdum führte. Solange dieses so sei, könne man nicht einfach durch fernöstliche Atemübungen die "Entleerung" des Subjektes vorantreiben, sondern müsste erstmal eines schaffen, das seinen Namen auch wirklich verdient. Dies sollte jedoch über Denken und Bewusstheit geschehen, da der Westen diesbezüglich hochdifferenzierte Traditionen besässe, die nicht einfach durch Tranceerfahrungen oder Guruhörigkeit abzulösen seien: "Der Osten kam zur Erkenntnis innerer Dinge mit einer kindlichen Unkenntnis der Welt. Wir dagegen werden die Psyche und ihre Tiefe erforschen, unterstützt von einem ungeheuer ausgedehnten historischen und naturwissenschaftlichen Wissen." (Ges.Werke 13, 51)

Auch könnten - richtig verstandene - Werte der eigenen Religion dabei eine grosse Rolle spielen: "Der Westen wird im Laufe der Jahrhunderte seinen eigenen Yoga hervorbringen, und zwar auf der durch das Christentum geschaffenen Basis." (11, 539) Was Jung damit meint, macht er an einer anderen Stelle deutlich: "Erst auf der Basis einer solchen Einstellung, die auf keine in der christlichen Entwicklung erworbenen Werte verzichtet, sondern im Gegenteil mit christlicher Liebe und Langmut sich auch des Geringsten in der eigenen Natur annimmt, wird eine höhere Stufe von Bewusstsein und Kultur möglich werden." (13,55) Dazu bräuchte man nicht unbedingt östliche Techniken, sondern einfach die Besinnung auf Verstecktes und Verlorenes in der eigenen Tradition: Für Jung zählten dazu auch die Alchemie, die Gralsgeschichten des Mittelalters sowie die Lehren der deutschen Mystiker (Jakob Böhme, Meister Eckhart etc.), die übrigens auch das Mandala-Symbol verwendeten. Ebenso die von ihm erarbeitete Technik der "aktiven Imagination", mit der man - bei klarem Bewusstsein - in die Bilderflut sowohl des persönlichen als auch kollektiven Unbewussten hinabtauchen könne. Die Unterscheidung dieser beiden Ebenen war für Jung von grösster Bedeutung: Bevor man nicht die "Macken" der eigenen Biographie aufgearbeitet habe, dürfe man nicht in überpersönlich-metaphysische Welten abheben. Wer dies tue - und für Jung zählten viele Asienschwärmer dazu - drücke sich nur um sein eigene "dunkle Ecke" herum (11, 573).

Ganz ähnlich argumentierte der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, der in seinen Anfangsjahren noch Anhänger der vom Orient faszinierten "Theosophischen Gesellschaft" war, die er aber bald wieder verliess. Auch für ihn, der sich intensiv z.B. mit Goethe und dem deutschen Idealismus auseinandergesetzt hatte, war eine einfache Übernahme östlicher Weisheiten undenkbar, zumal sie Dinge voraussetzten, die im Westen längst überwunden waren, z.B. die Anbetung von spirituellen Meistern oder hellsichtig-somnambule Tranceerfahrungen, die das Ich abdämpften statt zu stärken. Bei allem Respekt vor den Hochkulturen Asiens war deren Philosophie für Steiner doch eher etwas Anachronistisches, das sich mit seiner Auffassung von Evolution nicht vertrug.

Denn in der geistigen Geschichte des Westens - so Steiner - habe man sich richtigerweise immer mehr der materiellen Welt zugewandt, um Naturwissenschaften und Ichstärke zu entwickeln, beides höchstwichtige Elemente für folgerichtiges Denken und Handeln aus Freiheit. Daher sei es unzulässig, das irdisch-stoffliche Leben - wie im Orient üblich - als Verursacher von Leiden zu diffamieren und per Meditation in die Leere des Nirwana zu flüchten. Nicht sollten Ich und Denken abgeschafft werden, sondern sich zu mehr Kraft und Wahrnehmungsschärfe steigern, um illusionäre Aspekte der Realität zu durchstossen und zu tieferen, auch ganzheitlicheren Ebenen zu gelangen. Steiner sah daher z.B. im Buddhismus ein eher statisch-unhistorisches als dynamisch-entwicklungsbetontes Weltbild, das in früheren Zeiten wohl einmal funktioniert hatte, aber für die westliche Moderne nicht zu adaptieren war.

Zudem habe in Europa das Christus-Ereignis stattgefunden, das einen völlig anderen Gottesbegriff als den des Buddhismus einführte: Hier lächelte kein über den irdischen Abgründen thronender Buddha, sondern begab sich eine hohe Wesenheit mitten ins Leben der Menschen hinein, um deren Stofflichkeit, Zerrissenheit und Schmerz zu teilen. Dies war ein Jasagen zu Materie, Leid und individueller Existenz, nicht deren Verleugnung im Namen einer vermeintlich reinen Leerheit. Dieser "Christus-Impuls" war für Steiner ein wichtiger und nicht mehr rückgängig zu machender Entwicklungsschritt, auch wenn er die Exzesse und Grausamkeiten der abendländischen Kirchengeschichte aufs schärfste verurteilte (siehe dazu auch meinen Steiner-Essay in Atalante 5). Insofern gibt es hier auch interessante Berührungen zu C.G.Jung, der ja ebenfalls für den Westen eine Bewusstseinssteigerung durch historische, naturwissenschaftliche und christliche Errungenschaften fordert.

Steiner hegte Skepsis gegenüber den in asiatischen Religionen verbreiteten Atemübungen: Ihnen läge die in früheren Zeiten einmal gültig gewesene Auffassung zugrunde, dass der Mensch durch das Einatmen auch das Geistig-Beseelte der Aussenwelt in sich aufnehmen und sich zu neuer Einheit mit diesem verbinden könne. Längst aber sei die Verbindung zwischen Ich und Natur, menschlichem Geist und Kosmos zerfallen, was der Orient jedoch nicht wahrhaben wolle. Nun gelte es, sich auf neuen Wegen dem Geistig-Beseelten in Aussenwelt und Natur zu nähern, wobei die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Abendlandes von grosser Bedeutung seien. Der Westen, der hinter solche Errungenschaften nicht zurückfallen dürfe, müsse einen "neuen Jogawillen" ausbilden, eine neue Art des Pulsierens zwischen Innen und Aussen, die aber mehr mit Erkenntnis als mit Atmen zu tun habe. Das Denken müsse durch spezielle Übungen so verlebendigt werden, dass es hinter der äusseren Fassade der Dinge auch die geistigen Energien wieder wahrnehmen könne, etwa Formbildungsprozesse in der Natur oder karmische Gesetzmässigkeiten im menschlichen Lebenslauf. So entstünde eine neue Verbindung zwischen Einzelseele und "Weltseele", Ich und Natur, Geist und Kosmos, Innen und Aussen - quasi ein denkerischer Atemprozess auf höherer Stufe, der nicht in bewusstseinsmässig herabgedämpfte Stadien der Vergangenheit zurückfiele, sondern alle Errungenschaften des neuzeitlich wachen Ichs beibehielte.
(Steiner: Die Sendung Michaels, Dornach 1997, 105ff).
Aus einem solchen Denken heraus entwickelte die Geisteswissenschaft Steiners denn auch ökologische, kosmologische und heilkundliche Anschauungen, die wiederum fernöstlichen Lehren sehr nahekommen, aber gleichwohl immer auf europäisch naturwissenschaftlicher Basis stehen. Steiner glaubte wohl auch an Eingebungen durch "Götter" und "hohe geistige Wesenheiten", ja sprach gelegentlich sogar von "Hellsichtigkeit" und "übersinnlicher Erkenntnis". Aber er versuchte zeitlebens, solche Inspirationen mit der Empirie zu verbinden und durch das klare nachvollziehbare Denken laufen zu lassen. Dadurch - so sein Argument - wären bestimmte Negativerscheinungen östlicher Systeme wie Autoritätsgläubigkeit, okkulte Manipulationen, Ichschwächung etc. unmöglich. Wenngleich solche Dinge in den anthroposophischen Kreisen dennoch vorkommen, so sind dies eher menschliche Schwächen als Konsequenzen aus Steiners Lehre, die sich immer wieder scharf gegen Hörigkeit, mechanisches Nachbeten oder die unkritische Rezeption medialer Botschaften wehrt (siehe hierzu auch Gerhard Wehr: C.G.Jung und Rudolf Steiner, Zürich 1990, 193ff)

Leider erwähnen die Trimondis solche Argumentationsfiguren in ihrem Buch kaum, obgleich sie dadurch noch tiefere Kritikansätze hätten einarbeiten können. Trotzdem schliessen sie mit einer wichtigen und richtigen Feststellung, die auch Jung und Steiner geteilt hätten:

"Nicht dadurch, dass der Westen die Macht der Mythen leugnet, kann er sie überwinden. Er selber hat deren ungebrochene und gewaltige Präsenz auch in unserem Jahrhundert erleben müssen ... Nur wenn aufklärerisch orientierte Denker einen Einstieg in die Zentren der religiösen Kultmysterien wagen, und bereit sind, sich mit dem innersten Kern dieser Mysterien auseinanderzusetzen, wird es zu einer Entschärfung der 'religiösen Zeitbomben' kommen ... So absurd es klingen mag, der 'westliche Rationalismus' ist im eigentlichen Sinne die Ursache für den Okkultismus. Er drängt die esoterischen Lehren und ihre Praktiken ... in den gesellschaftlichen Untergrund, wo sie sich ungestört und hemmungslos ausbreiten können - bis sie dann eines Tages ... mit ungeheurer Gewalt hervorbrechen und die ganze Gesellschaft in ihren atavistischen Sog mit hineinziehen. Auf der anderen Seite macht der 'kritische Abstieg' in die Mysterienkulte der religiösen Traditionen wertvolle Lernprozesse möglich. Wir wollten ja mit unserer Analayse des buddhistischen Tantrismus nicht zu dem Schluss gelangen, dass alles an den traditionellen Religionen (im speziellen Fall am Buddhismus) zu verwerfen sei. Viele religiöse Lehrinhalte, viele Gesinnungen, Praktiken und Visionen scheinen bei der Errichtung einer friedvollen Weltengemeinschaft durchaus als wertvoll und sind sogar notwendig. Auch wir vertreten die Meinung, dass die 'Aufklärung' und der westliche 'Rationalismus' nicht mehr allein die Kraft haben, die Welt sinnvoll zu interpretieren, und schon gar nicht, sie zu verändern. Der Mensch lebt nicht vom Verstand allein! Die Welt des kommenden Jahrtausends ist deswegen unserer Sicht nach nicht zu entmythologisieren (nicht zu entzaubern oder zu re-rationalisieren), sondern der Mensch hat die Kraft, das Recht und die Verantwortung, die bestehenden Mythen, Mysterien und Religionen einem kritischen Untersuchungs- und Selektionsverfahren zu unterziehen." (792)


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